Wissenschaft trifft Wirtschaft
„Lieferketten dürfen nicht zur Spielwiese für Lobbyisten werden"
Interview mit Prof. Gabriel J. Felbermayr
Der Ökonom Gabriel Felbermayr blickt nüchtern und besorgt auf die gestörten internationalen Handelsbeziehungen. Als Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) ist er in Wien und auch in Berlin gefragter Politikberater. Doch welche Lösungen hat die Wissenschaft überhaupt anzubieten, um in der neuen Zeitenordnung das System der Lieferbeziehungen zu stabilisieren?

Herr Felbermayr, die globalen Lieferketten sind weltweit gestört – und zwar nicht durch nur eine Krise, sondern durch multiple Bedrohungen, die sich überlagern und teils verstärken. Haben Sie noch einen klaren Durchblick?
Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Aufgabe, die enorme Komplexität Schicht für Schicht abzutragen. Um etwa der Wirtschaftspolitik zu sagen, welche kritischen Knotenpunkte in den Wertschöpfungsketten tatsächlich schutzbedürftig sind. Um solche Netzwerkknoten in Branchen und bis auf Unternehmensebene zu identifizieren, wäre allerdings eine bessere Verfügbarkeit empirischer Daten wichtig. Es ist der große Hemmschuh, dass uns genau diese Daten fehlen.
Wer müsste die denn liefern?
Man bräuchte nur politischen Willen zur Datentransparenz. Die Daten über Lieferverflechtungen liegen entweder schon vor oder könnten relativ leicht erhoben werden – etwa systematisch über die Mehrwertsteuer. Länder wie Ungarn, Irland oder Slowenien halten das bereits detailliert nach, die großen Volkswirtschaften Frankreich, Deutschland, Italien aber nicht. Es ist ein Politikum, denn man würde mithilfe der Wissenschaft schnell feststellen, dass nur ein kleiner Teil der Unternehmen, die für sich Systemrelevanz reklamieren, tatsächlich systemrelevant sind.
Foto © Claudia Höhne
Können Sie ein Beispiel nennen?

Denken Sie an den Metallbereich, da ist es nicht immer transparent, wo die wichtigen ausländischen Inputs in die deutschen Wertschöpfungsketten hineingehen. Manchmal sind es kleine Hidden Champions als Verbindungspunkte, an denen sehr viel hängt für große Wertschöpfungsketten. Diese Forschungserkenntnis haben wir auch jüngst in unserem Workshop der Joachim Herz Stiftung in Hamburg diskutiert. Solche Bottlenecks zu identifizieren, zu benennen und gegebenenfalls politische Unterstützung zu ihnen zu lenken – dazu kann die Wissenschaft beitragen.
Sie gehören dem wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums an. Bremst ein Umfeld, in dem auch Lobbyismus eine ganz große Rolle spielt, Ihre Arbeit?
"Ohne den Experteninput wird ein Wirtschaftsminister keinen verlässlichen Kurs finden."
Die Gefahr besteht natürlich. Und deshalb ist das Objektivieren der Datenlage so wahnsinnig wichtig. Damit lässt sich verhindern, dass ein so elementar wichtiges Feld wie die Lieferketten zur Spielwiese für Lobbyistinnen und Lobyisten wird. Evidenzbasierte wirtschaftspolitische Beratung kann Fakten außer Streit stellen und so die politischen Anstrengungen auf die Sektoren und Unternehmen lenken, die wirklich einen Unterschied machen für die Wertschöpfung. Denn natürlich kommen ganz viele Leute zum Minister Habeck und alle sagen, sie bräuchten Unterstützung und politisches Geleit. Dabei ist das meist gar nicht nötig. Ohne das Vertrauen in die Datenlage und den Experteninput werden ein Wirtschaftsminister und seine Staatssekretärinnen und Staatssekretäre aber keinen verlässlichen Kurs finden.
Können Forschungsinstitute generell solches Vertrauen gewinnen? Oder müssen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen eine persönliche Beziehung zu Herrn Habeck aufbauen, bis er sagt: Das sind meine Leute, denen glaube ich.
Es sollte eigentlich Ersteres sein. Wir brauchen schon eine belastbare, auch institutionell abgesicherte Weitergabe von solchen Informationen. Deutschland leistet sich schließlich teure Institutionen wie Wirtschaftsforschungsinstitute, Universitäten oder Max-Planck-Institute, um Expertenwissen vorzuhalten. Aber in Realität sind dann doch persönliche Beziehungen und die Kreativität einer einzelnen Forscherin und eines Forschers sehr wichtig. Das ist nicht ideal, weil es so an der Chemie der handelnden Personen hängt – und damit an Zufälligkeiten.
Foto © Alexander Müller - www.alexandermueller.at
Sie sind nun nicht nur verdrahtet mit der deutschen Regierung, auch den österreichischen Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher beraten Sie. Wo klappt es besser mit der wissenschaftsbasierten Politikberatung?

Es ist zweischneidig: In Wien konzentriert sich alles, die Wege sind kurz – und das ist ein Vorteil der Kleinheit des Landes. Andererseits ist der Pool an wissenschaftlicher Expertise, aus dem man schöpfen kann, auch nur ein Zehntel so groß wie in Deutschland. Dort gibt es eine unglaublich reichhaltige Kapazität mit vielen Unis und Top-Leuten. Weil Vertrauen so wichtig ist für eine gute Gesprächsbasis, habe ich es persönlich in Österreich ein bisschen leichter. Aber das ist eben mehr oder weniger zufällig. Herr Habeck hat ja jetzt auch eine Ökonomenrunde eingerichtet mit Leuten, denen er das Vertrauen schenkt.
Sind Sie dabei?
Nein, aber ich weiß, wer drin ist und was da gespielt wird. Das ist nicht der wissenschaftliche Beirat und auch nicht der Sachverständigenrat. Wenn es so stark auf eine persönliche Ebene verlagert wird, besteht die Gefahr, dass relevante Expertise nicht in die Politik eindringt. Man umgibt sich mit Leuten, die am Ende nur noch das sagen, was man gerne hören will. Und das ist ein Filter, der möglicherweise nicht gut ist.
"Es besteht die Gefahr, dass relevante Expertise nicht in die Politik eindringt."
Müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommunikativ stärker werden, um ihre Erkenntnisse besser zu verkaufen?
Das ist eine zentrale Sache. Wir müssen das Thema Vertrauen neu angehen. Gerade in deutschsprachigen Ländern spüren wir ein hohes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft – aus der Bevölkerung heraus und auch aus der Politik. Daran müssen wir arbeiten, indem wir verständlich kommunizieren. Die Menschen müssen verstehen, was die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler da will, denn die Schlussfolgerungen müssen sie mittragen. Dabei müssen wir die Unparteilichkeit der Wissenschaft verteidigen, mit allen Mitteln.
Wie steht es um den Instrumentenkasten der Wirtschaftswissenschaft? Reichen klassische Ansätze in solch einer Krisensituation? Oder wäre es nötig, jetzt überraschende neue Konzepte anzuwenden oder auszuprobieren?
In einem großen Projekt arbeiten wir gerade interdisziplinär stark mit Leuten zusammen, die aus der Netzwerk-Mathematik und der Datenwissenschaft kommen. Stellen Sie sich vor, wir hätten die komplette Verflechtungsmatrix aller Unternehmen in Deutschland, wüssten also genau, wer an wen direkt und indirekt liefert. Das sind schon gigantische Datenberge. Die mathematische Forschung zu komplexen Netzwerken bietet uns für die kurze Frist schon gute Anhaltspunkte.
Inwieweit können Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie in solch einer Lieferkettenkrise helfen?
Das ist eine ganz wichtige Baustelle. Schon über die verschiedenen Coronawellen haben wir festgestellt, dass die Leute jeweils anders reagieren – etwa mit Blick auf das Horten von Lebensmitteln. Auch auf Unternehmensebene kommt es zu interessanten verhaltensökonomischen Effekten.
Die Lager füllen sich auch hier?

Ja, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es sogar für die makroökonomische Konjunkturforschung relevant wird. Wenn die Unternehmen erheblich in ihre Lager investieren, dann sieht die Wirtschaftsentwicklung positiver aus, als sie eigentlich ist und die Lagerflächen sind knallvoll. Auch durch die Veränderung der Erwartungen kann eine Krise eintreten, obwohl sie fundamental vielleicht gar nicht gerechtfertigt ist. Da sind wir bei der Verhaltensökonomie und bei politischem Leadership.
Jüngst erlebten wir eine gewaltige chinesische Drohkulisse gegenüber Taiwan, dem weltgrößten Hersteller von Mikrochips. Werden die Lieferketten noch viel stärker unter Druck geraten?
Ein Konflikt rund um Taiwan würde die moderne Hightech-Industrie dramatisch beschädigen, und zwar auf der ganzen Welt. Es wäre noch viel schlimmer als die Gasknappheit, weil es neben dem russischen Pipelinegas ja immer noch einen parallelen Flüssiggas-Markt gibt. Bei Mikrochips aus Taiwan existiert keine wirkliche Substitutionsmöglichkeit, für kein Land der Welt. Sollte ein Konflikt entbrennen um Taiwan, dann hat China bei vielen industriellen Vorprodukten, die super wichtig sind, ein starkes Machtinstrument in der Hand. Auch bei Seltenen Erden und etlichen Metallen hat China die Hand drauf. Gegensanktionen Chinas würden uns in einem Ausmaß wehtun, das Russland mit seinen Lieferbeschränkungen beim Gas nicht annähernd erreichen kann.
Was die hohe Energieabhängigkeit von Russland angeht, sind wir nun alle ernüchtert und nachträglich schlau. Haben wir die Risiken ignoriert, unterschätzt oder sogar opportunistisch in Kauf genommen?
"Politik, Wissenschaft und Wirtschaft haben sich an falsche Sicherheiten geklammert."
Es war sicherlich ein Stück weit naiv. Man hat gehofft, dass sich die Warnungen nicht realisieren. Da hat sich die Politik an falsche Sicherheiten geklammert, auch die Wissenschaft, auch die Wirtschaft. Und diese Illusion, dass große geostrategische Rivalitäten der Vergangenheit angehören, die ist geplatzt.
Auch in China zeigt sich das autokratische System in wachsender Deutlichkeit. Aber ein Problem scheint ja zu sein, dass man die Verflechtung der Lieferbeziehungen nicht so einfach rückabwickeln kann. Wie realistisch ist der Ruf nach Deglobalisierung?
Bei manchen Dingen geht das schon aufgrund der Rohstoffabhängigkeit gar nicht. Seltene Erden sind eben selten – und kommen in Europa nicht vor. Also hätte auch ein realistischeres Nachdenken über Geostrategie und Geopolitik nicht völlig verhindert, dass wir Abhängigkeiten haben. Man darf aber auch nicht übersehen, dass die Abhängigkeiten gegenseitiger Natur sind: Ohne westliche Vorprodukte, westliche Technologie würden wichtige Wirtschaftszweige in China kollabieren. Wenn der Input aus Deutschland nicht mehr käme, wären Hunderttausende Arbeitskräfte in China plötzlich nicht mehr produktiv.
Die Chinesen arbeiten mit „Made in China 2025" industriepolitisch seit Jahren auf Autarkie hin …
Ja, aber die Strategie ist sehr teuer, und sie sind lange nicht am Ziel. Falls China eine harte Rezession erlebt, falls die Arbeitslosigkeit steigt und der Wohlstand nicht mehr zunimmt, dann ist das für die chinesische Führung eine große Herausforderung. Denn das Regime bezieht seine Legitimität ja ganz stark aus diesem Versprechen, dass es den Menschen stets besser gehen soll. Die Frage für den Westen ist also: Wie kann man vor dem Hintergrund eines Gleichgewichts des Schreckens ein Mindestmaß an Kooperation aufrechterhalten?
Befinden wir uns schon in einer Art kaltem Wirtschaftskrieg?
Man kann „kalt" so definieren, dass da Drohungen im Raum stehen, die aber nie realisiert werden, solange die Machtverhältnisse im Gleichgewicht bleiben. Schließlich sind beide Seiten in der Lage, sich wirtschaftlich sehr weh zu tun. Man kann hoffen, dass dies die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation verringert.
"Wir müssen zentrale Inputs in den Wertschöpfungsketten nach Europa holen."
Es könnte also auch weitergehen wie bisher?
Das wäre höchst riskant. Die Frage nach den Druckpunkten und einer möglichen Erpressbarkeit muss jetzt Einzug halten in der neuen industriepolitischen Realität. Es bedeutet auch, dass man eine europäische Chipherstellung oder Batteriefertigung braucht, um zentrale Inputs in den Wertschöpfungsketten nach Europa zu holen. Eigentlich fast um jeden Preis.
Eine Rückbesinnung auf das alte Europa sei die einzige Chance, sich zwischen den feindlichen Blöcken in Asien und Amerika zu behaupten, so kommentieren manche. Stimmt das?
Es geht um die Formierung von neuen Allianzen und themenbezogenen Clubs, die wiederum globalisierungsfördernd sind. Zwischen Ländern, die sich politisch nahe sind, hat der Handel stärker zugenommen, als er abgenommen hat zwischen den Blöcken, die sich politisch nicht nahestehen. Also das ist eher ein transformativer Prozess als ein allgemeiner Schrumpfungsprozess. Der Austausch verschiebt sich – übrigens auch bei Dienstleistungen und Patenten.
Ist die Wissenschaft überhaupt schnell genug, um in Krisensituationen fundiert zu beraten?
Auf jeden Fall. Insbesondere wenn die Wissenschaft selber ihre globalen Wertschöpfungsketten gut nutzt, also international kooperiert, erhöht sie die Chance, schnell und wirksam Beiträge zu leisten. Es war wirklich gewaltig, wie rasch in der Coronakrise der einschlägige Output aus allen Teildisziplinen der Wissenschaft zugenommen hat. Da haben sich Leute gesagt: Okay, ich lasse mal meinen ganzen anderen Kram. Und mache ganz was Neues, weil es einfach so dringend ist, wissenschaftliche Erkenntnisse in den politischen Prozess einzubringen. Auch beim Krieg in der Ukraine gab es eine Multiplikation von Studien, was passieren würde, wenn kein russisches Gas mehr fließt. Am 24. Februar war die Invasion, einen Monat später waren die Studien da.
Herr Felbermayr, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Stefan Merx.
Wissenschaft trifft Wirtschaft
„Wissenschaft trifft Wirtschaft" ist eine Veranstaltungsreihe der Joachim Herz Stiftung. Das Format bringt Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft in der Elbphilharmonie zusammen und fördert den Dialog und Austausch zu aktuellen Themen. Die zweite Diskussionsrunde fand am 8. Juli zu dem Thema „Covid 19 and other Shocks on International Supply Chains" statt. Gabriel Felbermayr (Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung), Karl Brauner (ehemaliger Vize-Generaldirektor der WTO) und Edna Schöne (Mitglied des Management-Teams von Allianz Trade) diskutierten darüber, welche Lehren aus der Corona-Pandemie und der gegenwärtigen geopolitischen Situation für globale Wirtschaftsnetzwerke und Lieferketten gezogen werden können. Mit der Reihe möchte die Joachim Herz Stiftung dazu beigetragen, Erkenntnisse aus der Wissenschaft in Unternehmen, Politik und Gesellschaft zu tragen, und dafür sorgen, dass praktische Erfahrungen aus der Wirtschaft auch Eingang in wissenschaftliche Analysen finden.
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